1901 schrieb Sudermann an seine Frau …

Hermann Sudermann war ein passionierter Briefschreiber und insbesondere mit seiner Frau Clara korrespondierte er angelegentlich seiner Reisen oder ihrer Kuraufenthalte ausführlich. 1901 hielt er sich für einige Zeit in Italien auf, das ihm von früheren Reise her vertraut war. Sudermann suchte den Abstand zu Berlin, dem Gesellschaftsleben und vor allem den Abstand zu einer ihm nicht geneigten und zusehens bissigeren Kritik. Die süffisanten Urteile in den Feuilletons setzten ihm mehr zu, als ihm lieb sein konnte, und so sollte er ein Jahr später die Streitschrift „Verrohung in der Theaterkritik“ veröffentlichen. 1901 aber vermochte der südliche Aufenthalt seine Nerven zu beruhigen. Neben gesellschaftlichen wie kunsthistorischen Eindrücken zu Italien kommt auch seine Sammelleidenschaft zum Ausdruck. „Sie haben mir Marmor versprochen“, heißt es in dem Brief aus Verona. Seine Vorliebe für das edle Gestein sollte ihn späterhin bei der Ausschmückung von Schloss Blankensee und Park beflügeln.

 

Verona, den 21. März 1901, abends 8 Uhr.

Jetzt setz’ ich mich also in Positur, um Dir einen schönen Sonntagsbrief zu schreiben. Aber wo anfangen?

Mit der Einsamkeit. Also, liebes Kind, daß mir die Einsamkeit nicht nur nichts schadet, sondern daß ich mich unmenschlich wohl in ihr fühle, das ist meine neueste Entdeckung. Du weißt, welche große Angst ich immer vor dem Alleinreisen hatte. Nun, damit ist’s zu Ende. Ich bin wieder so gut imstande, auf mich selbst angewiesen zu sein, wie einst als jüngerer Mensch. Ob der reiche Verkehr in Berlin und die geselligen Tage in Martinsbrunn daran schuld sind, ob das allmähliche Rückweichen des Ewigweiblichen aus dem Zentrum des Interesses, ob der Arbeitsdrang, gleichviel – es geht wieder.

In manchem andern bin ich weniger selbstzufrieden, so u.a. was die geistige Dürre belangt, der ich durch das zerstreuende, entnervende Berliner Treiben anheimgefallen bin. Ich merke das an der Spärlichkeit, mit der Gedanken und Bilder mir beim Schreiben zufließen. Ich werde viel nachzuholen haben, um mir wieder einen geistigen Reservefond zuzulegen. –

Auch die Phantasiekraft, mit der ich meine Menschen und Handlungen gestalte, hat nachgelassen. Ich muß oft ins Dunkle hineintappen, wo ich früher nach klarem, festgefügtem Plane arbeitete. Am meisten Sorge aber macht mir das Ermüden meiner Nerven, das mir nach ein bis anderthalb Stunden Arbeit energisch Halt gebietet, und die Furcht vor den schlechten Nächten, die mich immer wieder vom Schreibtisch aufjagt. Der Nachmittagsschlaf ist sofort wie weggeblasen gewesen, als ich zu arbeiten anfing, die Nächte hingegen scheinen sich wieder zu bessern. –

Nun möchtest Du noch etliches über Verona erfahren. – Ich habe ja die glückliche Blindheit nicht mehr, in der die meisten Italienschwärmer von einer romantischen Rührung zur andern taumeln. Ich sehe überall Armut, Unsauberkeit, Verfall, Mangel an Handel und Produktion, jammervolle Zurückgebliebenheit in den meisten Kulturzweigen – ein gutes, begabtes Volk dem Einschlafen preisgegeben, weil ihm die Impulse fehlen. – In einer solchen Klein- oder Mittelstadt wie Verona wird das recht klar. Läden in Hülle und Fülle, aber immer dieselben und alle leer. Jedes dritte Haus eine Apotheke, ein Zigarrenverschleiß, ein Frucht- oder Delikateßladen, ein Friseur – die Kaffees und Weinschränken nicht zu vergessen. Wenn man eine deutsche Stadt von sechzigtausend Einwohnern damit vergleicht!

Und der Zusammenbruch allenthalben! Eine meiner kunstgeschichtlichen Sehnsüchte ist von altersher der Palazzo Bevilacqua, den ich über die neuen Prokuratien und den Pesaro gestellt habe. Jetzt hab’ ich ihn gesehn: die Riesenfenster mit alten Brettern verschalt, die Türen zerbrochen: ein Kohlenspeicher. Ist so was nicht scheußlich? Und dies ist nur ein Beispiel für viele.

Hinreißend Schönes gibt es genug, so z.B. den Platz der Signoria mit einer Loggia aus der Frührenaissance. –

Auch ein antikes Marmortor steht noch da, quer über die Straße hin, als müsse das so sein, und ein andres gefälligst in eine Wand hinein gemauert. Sehr viel Frühromanisches in Vorhallen, Torbögen etc. auch bei Privathäusern. Auch allerhand romanische Marmorkapellchen wie Taubenschläge auf den Straßen. Die Gotik ist ein Abklatsch der venetianischen, die Renaissancebauten sanmichelischer Eigenwuchs.

Die Scaligergräber, die Piazza d’Erbe beschreib’ ich Dir nicht, von ihnen hast Du schon zuviel gelesen. Wenn man bedenkt, daß ich das alles bis heute mittag nur bei strömendem Regen gesehn habe, so muß man mir Lust und Liebe zugestehn. Erst heute abend gab es so etwas wie blauen Himmel und rosa Wölkchen hinter den umschleierten Zinnen der Türme. Eine herrliche Basilika habe ich gesehn: St. Zeno. Lies im Burckhardt* nach, sie ist eine der schönsten, die es gibt – eine große, historische Stimmung ruht auf ihren roten Pfeilern. – Von Theoderichs Palast stehn noch ungeheure Mauermassen da, ungegliedert, ohne Fenster, fast hundert Fuß hoch – scheußlich anzusehn.

Bei zwei Antiquitätenhändlern war ich auch. Sie haben mir Marmor versprochen. Wollen sehn. Einen herrlichen Rauchmantel hab’ ich auf dem Kicker: purpurrot mit Gold und Silber – Renaissance – als Klavierdecke. Soll hundertachtzig Lire kosten … ich will hundertzwanzig bieten. –

Und nun endlich zu Dir, liebes Herz. –

Diese Nacht träumte mir, Du hättest Dein Stück fertig. Und das ging so zu. Ich liege in meiner Heydekruger Giebelstube, Du weißt, der in dem verkauften Hause, wache in der Nacht auf und sehe durch das Guckfenster der Tür Licht schimmern. Erschreckt steh’ ich auf, denn ich denke zuerst an Feuer, da ertapp’ ich Dich heimlich auf dem Bodenspeicher sitzen und schreiben. Ich will schelten, aber Du stehst strahlend auf, machst einen dicken Strich und rufst: „Eben fällt der Vorhang.“ Hat der Traum eine Bedeutung?

* gemeint ist Jakob Burckhardt: „Cicerone. Anleitung zum Genuß der Kunstwerke Italiens“

zitiert nach Irmgard Leux (Hg.): Briefe Hermann Sudermanns an seine Frau (1891-1924), Stuttgart, Berlin 1932, S. 157-160